Geistige Vitalität und Leistungsfähigkeit
Unser Gedächtnis – Es geht nichts verloren!
Es gibt Menschen, die können die schwierigsten Rechenaufgaben im Kopf lösen, andere haben ein ausgezeichnetes Gedächtnis, wieder andere brauchen sich eine Seite in einem Buch nur einmal anzuschauen und können den Inhalt auch nach Tagen noch genau wiedergeben. Das menschliche Gehirn ist wohl das ungewöhnlichste und vermutlich auch leistungsfähigste Organ, das es auf neurophysiologischer Ebene je gegeben hat.
Aber – was geht eigentlich in unserem Kopf vor? Wie lernt das Gehirn und wann lässt es uns im Stich? Mit diesen spannenden Themen beschäftigt sich die Wissenschaft schon eine ganze Weile. Kein Wunder, denn was wären wir ohne unser Gehirn?
Das, was unser Gehirn am besten kann ist: Lernen. Und das tut es, den lieben langen Tag. Schon beim Aufstehen beginnt das Gehirn, die ihm gebotenen Sinneseindrücke zu verarbeiten, und es hört auch nicht auf, wenn wir uns ins Bett legen – ganz im Gegenteil. Es arbeitet auf Hochtouren, auch wenn wir meinen zu schlafen!
Lernen!? Wieder so ein Begriff… jeder kennt ihn, jeder gebraucht ihn, jeder glaubt zu wissen, was damit gemeint ist, aber wenn Sie gefragt würden, was Lernen eigentlich ist, müssten Sie vermutlich – nicht viel anders als die meisten Wissenschaftler – erst einmal nach Worten suchen und würden versuchen zu umschreiben, was damit gemeint sein kann, oder nicht?
Über viele Jahre oder sogar Jahrzehnte herrschte nämlich die (irrige) Meinung, dass Lernen ein passiver Prozess sei. Motto: „Nürnberger Trichter“, alles oben hineinstopfen, ganz egal, ob der Betreffende damit etwas anfangen kann oder nicht!
Die – neurophysiologische – Wirklichkeit sieht jedoch ganz anders aus!
Lernen ist ein aktiver Prozess, mit dem ein Organismus Informationen aus der Umwelt aufnimmt und in abrufbarer Form im Gedächtnis speichert. Oder anders ausgedrückt: Lernen ist eine Arbeit des Gehirns, die in erster Linie von dem betreffenden Menschen selbst ausgeht. Was wir lernen und wie, das „wissen“ nur wir selbst!
Um das eben Gesagte besser zu verstehen, werfen wir doch einfach mal einen „kleinen Blick“ in unser Gehirn: Das menschliche Gehirn besteht aus zwei Hälften (der rechten und der linken Hirnhemisphäre), auf denen unterschiedliche Funktionszentren und Assoziationsfelder lokalisiert sind. Die Hemisphären werden durch einen Balken, den Corpus callosum, verbunden. Da das Nervensystem des restlichen Körpers überkreuz mit dem Gehirn verbunden ist, werden die Funktionen der rechte Körperhälfte von der linken Hemisphäre gesteuert und umgekehrt. Diese Symmetrie wird allerdings nicht konsequent durchgehalten. So ist beispielsweise das Sehzentrum symmetrisch in beiden Hemisphären angelegt. Funktional liegt aber eine asymmetrische Arbeitsteilung vor: Der linke Bereich ist mehr für Schriftbilder zuständig, der rechte mehr für Figuren und Formen. Bereits den Wissenschaftlern des frühen 19. Jahrhunderts war (aufgrund der Beobachtung der Auswirkungen von Hirnverletzungen) bekannt, dass das aktive Sprachzentrum in der linken Hemisphäre sitzt. Da Sprache so wichtig für den Menschen ist, führte diese Feststellung zur Höherbewertung der linken Hemisphäre und zur Disqualifizierung der rechten Hemisphäre als stummes, untergeordnetes, minderentwickeltes „Anhängsel“.
Grundlegend neue Erkenntnisse gewann die Neurophysiologie in den 60er Jahren durch die sog. „Splitbrain“-Forschungen von Roger W. Sperry und seinen Schülern. „Split-Brain“-Patienten sind Epileptiker, die unter so starken Anfällen leiden, dass das gesamte Gehirn in Mitleidenschaft gezogen wird. Um wenigstens eine Hemisphäre zu entlasten, wurde der Corpus callosum durchtrennt. Beobachtungen und Tests an diesen Patienten zeigten, dass beide Hemisphären an hochentwickelten kognitiven Prozessen beteiligt sind, wobei jede Gehirnhälfte ihre speziellen Funktionen und Arten der Informationsverarbeitung hat.
Doch was nützt uns alles Lernen, wenn wir uns nichts merken können. Der Vorgang des Speicherns ist für unser Überleben von ganz außerordentlicher Bedeutung. Stellen Sie sich nur einmal vor, Sie würden bei Ihrem täglichen Weg zur Arbeit auf einmal nicht mehr wissen, wie Sie zu fahren hätten!? Oder Sie würden Menschen, Freunde, Bekannte nicht mehr wiedererkennen? Schrecklich, nicht wahr! Doch das geschieht nur Menschen mit schwerwiegenden Erkrankungen des Gehirns, wie z.B. Alzheimer. Tatsächlich sind Sie, ist Ihr Gehirn jedoch in der Lage, Menschen selbst dann wiederzuerkennen, wenn Sie sie über Jahre nicht gesehen haben und die Betreffenden sich sogar stark verändert haben.
Das Gedächtnis ist eben mehr als nur ein gigantischer Speicher von Daten. Viele Ereignisse und Eindrücke, die wir am Tag aufnehmen, werden nicht oder in veränderter Form abgespeichert, andere werden an bereits eingeprägte Gedächtnisstrukturen angefügt, wieder andere werden auf verschlungenen Wegen zutage gefördert, und unvermittelt erinnern wir uns plötzlich an längst vergangene Situationen – bis ins letzte Detail. Es geht nichts verloren!
Der viel bemühte Vergleich mit einem Computer muss also revidiert oder zumindest stark eingeschränkt werden: Noch ist kein noch so schneller und gut ausgestatteter Computer in der Lage, das zu tun, was ein menschliches Gehirn bzw. Gedächtnis vermag!
Aber verweilen wir noch ein wenig bei dem Prozess des Abspeicherns von Daten in unserem Gedächtnis. Eigentlich ist es nämlich nicht ein Gedächtnis, mit dem wir es zu tun haben, sondern es sind mindestens drei verschiedene Bereiche, die die unzähligen Bilder und Informationen, die Tag für Tag auf uns einströmen, in die richtigen „Schubladen“ stecken.
Je nach der Dauer der Speicherung der Informationen wird zwischen den verschiedenen Gedächtnistypen unterschieden.
Das sensorische Gedächtnis
Hören Sie mir überhaupt zu?
Wer kennt das nicht: Sie sitzen in einem Raum, zusammen mit vielen anderen Menschen, ein Seminar, eine Unterrichtsstunde oder etwas in dieser Art. Vorne spricht der Referent, Lehrer, Ihr Vorgesetzter, doch Sie sind mit Ihren Gedanken für einen kurzen Moment ganz woanders. Mit einem Mal werden Sie abrupt aus Ihrem Tagtraum geweckt. Der Referent spricht Sie an: „Hören Sie mir überhaupt zu? Was habe ich eben gesagt?“ – Doch, oh Wunder – Sie können zumindest den letzten Satz dessen, was der Referent gesagt hat, wiederholen. Das verdanken Sie dem so genannten sensorischen Gedächtnis. Einer Form des Gedächtnisses, die für jede Art der Sinneswahrnehmung spezifisch ist (also für den Sehsinn, den Hörsinn, den Tastsinn etc.) und unendlich viele Informationen aus der Umwelt aufzunehmen in der Lage ist – allerdings werden diese Informationen auch nur für Bruchteile von Sekunden gespeichert.
Das Arbeitsgedächtnis
Bis zu sieben Informationseinheiten werden gespeichert!
Erst dadurch, dass wir uns einzelne Elemente aus diesem riesigen Wust von Informationen bewusst machen, werden sie in den nächsten Gedächtnisbereich aufgenommen, das Arbeits- oder Kurzzeitgedächtnis. Informationen im Kurzzeitgedächtnis verbleiben dort einige Minuten. Allerdings ist die Speicherkapazität des Kurzzeitgedächtnisses ausgesprochen begrenzt: Bis zu sieben Informationseinheiten (auch Chunks genannt) können dort gespeichert werden. Werden diese Informationen nicht weiterverarbeitet (z.B. durch Wiederholung oder Verknüpfung an andere Speichereinheiten), dann werden sie von nachfolgenden neuen Informationen schon sehr bald wieder verdrängt. Auch das kennen Sie: Gerade hatten Sie sich eine Telefonnummer gemerkt. Dann kamen zwei weitere Anrufe oder Sie mussten etwas anderes machen – und schon ist die Nummer wieder weg.
Das Langzeitgedächtnis
Da werden Bilder anders „gelagert“
Erst der Eintritt ins Langzeitgedächtnis, das übrigens über eine unbegrenzte Speicherkapazität verfügt, entreißt eine Information dem Vergessen und damit auch – in gewissem Maße – der Vergänglichkeit.
Das Langzeitgedächtnis ist wiederum eine Welt für sich! Da werden Bilder anders „gelagert“ als Bewegungsabläufe, Worte anders als Begriffe. Es würde den Rahmen dieses Buches sprengen, wenn wir hier auf alle Einzelheiten der Informationsspeicherung im Gehirn eingehen würden. Nur so viel: Alles das, was wir unter Denken, Lernen und Gedächtnis verstehen, wird wiederum gesteuert und reguliert durch komplexe Systeme – allen voran das Limbische System, dem inneren Teil der Großhirnrinde. Hier kommen die Sinneseindrücke an und werden weiter verschaltet. Hier finden sich auch die neurophysiologischen Wurzeln für das, was wir als Emotionen wahrnehmen, und was wiederum für das Lernen und Memorieren von ganz entscheidender Bedeutung ist.
Mit einem Wort: Die Verschaltung, Vernetzung ist das, was unser Gehirn so einzigartig macht! Das Gehirn eines normalen, gesunden Menschen beinhaltet etwa 1000 Milliarden Neuronen (Nervenzellen). Und jedes Neuron ist mit bis zu 45.000 anderen verschaltet! Können Sie sich vorstellen, was das bedeutet? Nein, kein Wunder! Kommen wir aber noch einmal zurück zu den Eigenheiten des Gehirns, dem Lernen und dem Abspeichern, sprich dem Gedächtnis und der geistigen Vitalität. Letztere findet ihren Ausdruck nicht nur in der Fähigkeit, einen Einkaufszettel auswendig zu lernen. Weit wichtiger und bedeutsamer erscheint uns Menschen – aus verständlichen Gründen – die Gabe, neue Wege zu gehen, Probleme wie aus dem Nichts zu lösen, d.h. kreativ zu sein!